Panoramabild_mittel16.02.2015: Ein Kurzbesuch vor vier Monaten in den Schweizer Alpen gab mir viele tiefe Eindrücke mit, die während und nach der Altantiküberquerung weiterhin stark nachwirken. Seit frühester Kindheit ist mir das Lötschental im Wallis durch viele Aufenthalte sehr vertraut. Kurz vor der langen Seereise konnte ich dort erneut frische Bergluft zwischen den gletscherbehangenen und erhaben-majestätischen Gipfeln schnappen.

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“Maul des Riesen”: das Gletschertor des Langgletschers im Lötschental.

Gletscher knacken und knirschen, wie aus unmittelbarer Nähe zu hören ist. Polternd rollen Geröllbrocken über ihre Oberfläche, stürzen die steilen Ränder herab und werden im Untergrund mitgeschoben. Kalt und mächtig hängen die Eismassen an steilen Bergen und liegen mit ihren Gletscherzungen mit weit aufgerissenen “Mäulern” aus eisigen Höhen bis in die gemäßigteren Talbereiche.

An vielen Orten drangen sie damit tief bis ins Bewusstsein der Talbewohner ein, so wie es beispielsweise die »Lötschentaler Sagen« zeigen. J. Siegen trug diese zusammen und veröffentlichte sie 1979. Die Gletscher werden darin als geheimnisvolle Riesen beschrieben, die tot sind und doch leben, die stille stehen und doch vor- und rückwärts gehen, die leblos daliegen und doch immer anders sich gestalten”.

Kein Wunder, dass die Talbewohner vor ihnen größten Respekt hatten und es bis in das 18. Jahrhundert hinein fromme Gelübde ganzer Gemeinden in den Regionen gab, in denen Gletscher vorrückten, um diese zu besänftigen. Sind Gletscher doch bald wie Drachen, die mit offenem Rachen an den Gräten hängen und jeden Augenblick drohen in das Tal zu stürzen; bald wie Schlangen, die sich durch die engen Täler winden”, wie die »Lötschentaler Sagen« wiedergeben.

Doch andererseits üben sie einen enormen Reiz aus und so preist sie der »Führer für Touristen« von Jos. Siegen aus den 1920er Jahren:

Die Gletscher sind auch die schönste Zierde des Hochgebirges. Ein ödes Felsengebirge wäre der herrliche Kranz der Lötschtaler Berge ohne die weissen Firnstreifen und die massigen Gletscherfelder. Das Lötschental hat den Vorzug, hineingebettet zu sein in das ausgedehnteste und schönste Gletschergebiet des ganzen Alpenkreises.

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Blick durchs herbstliche Lötschental von Ost nach West

Rund 18 km (10 Seemeilen;) erstreckt sich das Tal von Ost nach West und mündet dann mit tiefer Schlucht scharf nach Süden abknickend ins Rhonetal, dessen größtes nördliches Seitental es ist. Teile des Lötschentals gehören zum »UNESCO Welterbe Jungfrau-Aletsch«, so der höchste Gipfel: das Bietschhorn mit einer Höhe von 3937 m. Zwar noch nicht ganz zu den Viertausendern zählend ist dieser majestätische Berg jedoch als markante Granitpyramide weithin sichtbar.

Von Osten ragt über die Lötschenlücke der ebenfalls zum UNESCO Welterbe gehörende Langgletscher ins Tal. Blick man vom Gletschervorfeld nach Westen durch das Tal, so ist deutlich zu erkennen, wie hier die Gletscher der letzten Eiszeit gewirkt haben. Markant zeigt eine sogenannte “Trogkante” an dem links im Bild befindlichen Nordhang des südlichen Gebirgszuges, bis wohin der Kernbereich der Gletscher reichte. Auf dem Foto liegt der Neuschnee bis zu diesem markanten “Knick”. Mit enormer Kraft haben Gletscher dieses Tal in das zumeist aus Graniten und Gneisen bestehende kristalline Grundgestein vertieft und dabei an alten tektonischen Bruchlinien die Grundform der heutigen Gestalt ausgehobelt.

Der Lärchenwald 2014 (unterer Bildrand): nicht vom Gletscher bedroht – sondern weit von dessen jetziger Front mit Gletschertor entfernt.

 [Von der Fafleralp] ist in einer Stunde im Talgrund der Langgletscher zu erreichen (2000m). Die «Weisse Kuh» ist in den letzten Jahren um einige hundert Meter ins Tal vorgerückt, den neuen Grasboden aufackernd und ein junges Lärchenwäldchen bedrohend.

(J. Siegen um 1925)

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“Lebensbäume” im Gletschervorfeld des Langgletschers.

Die archaische Kraft der Gletscher ist auch noch an dem momentan knapp 6,5 Kilometer ins Tal ragenden Langgletscher zu spüren – auch wenn er um rund 1.000 m seit seinem Höchststand am Ende der Kleinen Eiszeit (um 1850) zurückgegangen ist. Sein enormes Abschmelzen um rund 400 m seit den 1970ern lässt im unteren Bereich der Gletscherzunge nur noch ein Trümmerfeld zurück, bei dem ein gut gestalteter Gletscherlehrpfad einzelne Zwischenstände der Gletscherfront aufzeigt (mit Hinweistafeln & in diesem Heft).

In der unten anschließenden Bildergalerie zeigen mehrere Aufnahmen die mich stark ergreifenden Veränderungen: dort wo in meinem Geburtsjahr (1977) noch der Gletscherrand lag stehen nun als “Lebensbäume” rund 8 m hoch aufragende Lärchen und Tannen und von dort, wo ich als Zehnjähriger völlig fasziniert die uralten Eismassen knacken und knirschen hörte sind’s noch mehrere hundert Meter bis zum Gletscher.

Die Fieberthermometer der Erde

Gletscher zählen zu den aussagekräftigsten Klimaindikatoren. […] Der anhaltende und heute beschleunigte Gletscherschwund hat das Erscheinungsbild der Alpen sichtbar verändert. Es entstanden neue unvergletscherte Flächen, die Gletschervorfelder, die je nach Höhenlage kahl sind oder allmählich wieder von der Vegetation eingenommen werden. Der Klimawandel ist erlebbar geworden. (Broschüre zum UNESCO-Welterbe Aletschgletscher 2011, S. 36)

Auch wenn gerade für mich “Meer-Menschen” die Gebirgswelt weiterhin enorm fasziniert und Wanderungen durch die atemberaubend schön gefärbten Herbstwälder und auf Gipfel absolut begeistern: schon aufgrund eigener Erfahrungen kann ich hier den Klimawandel tatsächlich an vielen Veränderungen deutlich wahrnehmen – ein erschütterndes und erschreckend Erlebnis! 

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Blick durch das herbstliche Lötschental auf nahezu schneefreie Rothörner.

Südwestlich ist das Lötschental abgeschlossen von der Gruppe der drei Rothörner. […] Die Pässe sind alle über 2600 m hoch und mehr oder weniger vergletschert, oder wenigstens mit ewigem Schnee bedeckt.

 

So zeigt noch zusätzlich und verstärkend der Blick in den schon oben zitierten Reiseführer wie sich die Natur verändert hat. Und seine Befürchtung, dass die herrlichen Berge lediglich ein “ödes Felsengebirge” wären ohne Schnee und Eis, findet sich ähnlich in aktueller Studie des schweizerischen Bundesamtes für Umwelt wieder:

Wegen der schmelzenden Gletscher wird die Attraktivität der Gebirgsland­schaft jedoch abnehmen. (Einschätzung des BAFU in dieser Studie von 2012)

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Die Lötschenlücke am 14. Oktober 2014 um halb Sechs Uhr: Langgletscher und Gipfel schimmern mit feiner Neuschneedecke im Mondlicht.

Tiefgreifende Veränderungen durch den Klimawandel sind hier in dem mir seit frühester Kindheit sehr ans Herz gewachsenen Gebirgstal erlebbar und schüren ein zorniges Unverständnis für die an so vielen Stellen geäusserte Ignoranz gegenüber dem Klimawandel. Denn er ist “die größte gemeinsame Herausforderung der Menschheit” (UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon).

Doch trotz alledem ergreift die majestätisch-erhabene Gebirgswelt wieder enorm – liegt’s vielleicht auch daran, dass der Schnee im Mondschein faszinierend schimmert und hier die Sterne “zum Greifen nah” zu sein scheinen?

So klar konnte ich sie erst einen Monat später wieder auf dem weiten Meer erleben, während dieser Atlantiküberquerung…